Die Geschichte der Werke von Gustavo Dalinha beginnt mit einer Reise nach Madagaskar und einer Entdeckung. 1990 reiste Gustavo Dalinha nach Madagaskar und lernte dort ein handgeschöpftes Papier kennen, das aus Baumrindenfasern hergestellt wird. Dieses Papier, das nach dem Volk, von dem es hergestellt wird, Antaimoro genannt wird, hat es dem Künstler in seiner besonderen Beschaffenheit angetan. Leinwand und Ölfarben hat er seitdem kaum noch berührt. In seinem Atelier hängen viele seiner Bilder wie Häute zum Trocknen an gespannten Metallseilen in der Luft. Anders als Leinwandwandbilder kommen die Papierarbeiten ohne Rahmen aus. Ihre haptische Struktur ist Teil ihres Charakters.
Gustavo Dalinha lässt sich das kostbare Papier, das in Madagaskar selbst fast nur noch in der Souvenir-Produktion für Touristen zum Einsatz kommt, von dort schicken. In seiner Bearbeitung mit Pigmenten, Graphit oder Eisenoxiden verändert es vielfach seine Form und Eigenschaft. Es saugt sich mit der Farbe voll, es schluckt sie, und formt sich mit der Flüssigkeit der Malmittel. Es wird zum Lappen und zum Relief, es erhält einen eigenen Körper. Anders als in der Ölmalerei ist in den Papierarbeiten von Gustavo da Liña die Trennung von Bildträger und Bild, von Grund und Motiv aufgehoben. Die Farben verschmelzen mit dem Papier; beides scheint zugleich aus der gleichen Ursuppe gefischt, in der sich noch alle Elemente in einem brodelnden Zustand befinden und noch alles Gestalt werden kann. Gustavo Dalinha prägt teils Formen wie ein Relief in die Papiere, etwa die Barren oder die Spalten, oder er besetzt sie mit Symbolen, sehr oft mit Zitaten aus dem Fundus der Kulturgeschichte. Wir finden Labyrinthe aus der Kultur der Antike, Kreise, Balken, Brücken. Der Künstler bearbeitet diese Zeichen oft in einer ganzen Serie; spielt sie in den verschiedenen Formaten und Farben durch. Zur Zeit beschäftigt ihn die Figur der Spalte, die zum Beispiel in der Tradition der Tolteken vorkommt: Dort markiert sie, wie er erzählt, das Tor zu einem anderen Bewusstsein. Sie wird in seinen Arbeiten aber fast zu einem landschaftlichen Element, einer Öffnung im Fels, ein Tal zwischen zwei Höhenzügen, einem Canon durch eine Hochebene. Denn die Bilder geben nicht vor, in welchen Größenordnungen wir sie lesen. Und so können sie ebenso gut ein Detail bezeichnen als auch eine ganze Landschaft meinen. Aber noch einmal zurück zu den Symbolen, die Gustavo Dalinha zitiert. Es sind gefundene Zeichen, deren Wiederverwertung der Künstler durchaus in einem appellativem Sinn meint: Als eine Aufforderung zur Besinnung und zum Nachdenken über den eigenen Standort. Seine Werke sind meditative Einladungen. Mindestens so weit wie die Insel Madagaskar von Berlin wegliegt, entfernen sie sich aus der Gegenwart; aber ebenso, wie der Reisende das Besondere der Insel vor allem vor dem Hintergrund seiner Herkunft erfährt, ist die Art, wie die Bilder vom Hier und Jetzt Abstand nehmen, doch durch eine Perspektive aus dem Hier und Jetzt geprägt. Gustavo Dalinha sucht im Überzeitlichen nach etwas, was er in der Gegenwart hier vermisst. Ein täglich erfahrener Mangel an Selbstreflexion, an Bewusstsein über die eigene Situation, Fehlen an Ruhe und Vertiefung treibt ihn dazu, nach Zugängen zu andern spirituellen Räumen zu suchen. Er möchte seine Bilder als Instrumente der Selbstverständigung und der Selbsterkenntnis anbieten. Gegen die Hektik der Gegenwart, gegen die Tendenz der Zerstreuung wollen sich dem Betrachter als ein Gegenüber dienen, sich zu zentrieren und das eigene Gleichgewicht zu finden. Vor drei Jahren entstand ein ausführlicher Katalog, in dem Günter Zehnder ihm bescheinigte: "Die Werke tragen eine fast liturgische Kraft in sich, sind von stiller Feierlichkeit, ohne seichtem Pathos zu verfallen." Auch im Gespräch betont Gustavo Dalinha sehr, es verbindlich zu meinen und nach dem Existentiellen zu suchen. Aber mindestens ebenso wichtig wie diese Besetzung mit Zeichen und die Aufladung mit Bedeutung erscheint mir die Sprache des Materials selbst. Die Papiermasse aus den Rindenfaser erweist sich als ein guter Darsteller elementarer Eigenschaften. Sie kann weich und anschmiegsam wie Stoff werden, sie kann fest und zäh wie Leder und Haut erscheinen, oder rau, glatt und hart wie und Metall. Manchmal betont die Bearbeitung den Charakter des Gewachsenen, des vegetabilen und Natürlichen. Ein anderes mal wirken die Oberflächen verwittert wie von Sand und Wind geschliffenen oder sie sind von Falten und Rissen durchzogen, spröde und ausgetrocknet wie Erde, die lange das Wasser entbehrt hat. In all diesen Stadien findet nicht nur eine ständige Transformation des Materials statt sondern sie ahmen auch verschiedene Zustände der Transformation von Energie nach. Die Bilder scheinen Momente des Übergangs und sich in ineinander verwandeln zu können. So spielen sie ein wenig die Schöpfung nach.
Gustavo Dalinha wuchs in einem Grenzgebiet zwischen Brasilien und Uruguay auf und diese Situation hat ihn so geprägt, dass er danach seinen Namen - da Liña - wählte. Das Motiv der Passage, der Grenzüberquerung, ist zum einem Leitmotiv seiner Kunst geworden. In den achtziger Jahren arbeitete er in Brasilien, wohin er auch heute noch oft für Ausstellungen und Arbeiten zurückkehrt; 1989 zog er nach Berlin. Doch das Queren von Grenzen ist nicht nur topographisch gemeint. Er beschreibt es auch als ein Problem der Wahrnehmung. In jedem Moment empfangen wir Signale auf den verschiedenen Ebenen unserer Empfänglichkeit: rational, ästhetisch. Ein Teil wird sofort wahrgenommen und umgesetzt, andere Aspekte entfalten sich erst im Lauf der Zeit. Den Austausch zwischen diesen Ebenen durchlässiger zu gestalten, sich bewusster zu werden, mit welchen Teilen man reagiert, was man überhaupt mitbekommt und wovor man sich erst einmal abschottet, das könnte ein Beispiel für die Konzentration und die Sammlung sein, die Gustavo Dalinha intendiert. Er will die Grenzen öffnen zwischen dem, was an der Oberfläche liegt, und dem, was tiefer verborgen ist. Deshalb markieren die Symbole in seinen Bildern so oft einen Übergang, eine Brücke, eine Torsituation.
Katrin Bettina Müller.
12.JUNI 2003.