Wer den Ausstellungsraum der Brasilianischen Botschaft in Berlin betritt, wird überrascht sein. Der nüchterne, auch für Empfänge gedachte Saal hat sich in einen Meditationsraum verwandelt. Ein Musen-Tempel im Wortsinne ohne Andacht und Schwermut. Vielmehr vermitteln die Kunstwerke von Gustavo da Liña etwas Erhebendes und Heiteres, erleuchten und bewegen. Sie ziehen den Betrachter in ihren Bann und schaffen einen Kunstraum aus Farbe und Licht, dem sich die vorgegebenen architektonischen Koordinaten unterordnen. Da Liñas Werke hängen nicht nur an der Wand, sie sind auch im Raum platziert, so dass man um sie herum gehen und sie auch befühlen kann. Sie lassen zugleich neue Blickachsen entstehen, durch sie werden Wandgliederungen akzentuiert und neue visuelle Schwerpunkte gesetzt.
Gustavo da Liñas Werk bewegt sich zwischen verschiedenen Welten. Als Gustavo Castro in einem Grenzort zwischen Brasilien und Uruguay geboren, wird die Friedenslinie, die der Künstler in seinem neuen Namen aufscheinen lässt, zum prägenden Erlebnis und gedanklichen Anstoß. Seit fünfzehn Jahren in Berlin ansässig, ist da Liña doch immer auch ein Reisender und auf der Suche. Ein Aufenthalt in Madagaskar brachte ihn 1990 in Kontakt mit dem vor langer Zeit aus arabischen Ländern eingewanderten Volk der Antaimoro. Das von ihnen verwendete, handgeschöpfte Papier, dem die Schamanen magische Kräfte zuweisen, wurde für da Liña von nun an zum zentralen Bildträger, mehr noch, zum Bild formenden und bestimmenden Material. Ein Besuch der Kathedrale von Chartres führte ihn zum kretischen Labyrinth, das er als weiteres Formelement in seine Kunst mit aufnahm.
Grenzerfahrungen markieren die Kunst von da Liña. Sie werden mit ästhetischen Mitteln transzendiert und zum Ausgleich gebracht. Als Werke auf Papier entsprechen die ausgestellten Arbeiten Gemälden. Aufgrund ihrer durch gezielte Beleuchtung noch verstärkten haptischen Qualitäten, die in den Prägedrucken offenkundig sind, und ihrer rahmenlosen, zum Teil frei hängenden Präsentation entsprechen sie zugleich Objekten – sind Bild-Körper. Die im Zentrum stehenden wie auch Kontur gebenden Formen Kreis, Quadrat, Labyrinth oder kalligraphische Zeichen sind von Menschen gemachte Formen. Materialbedingte, durch Pinselauftrag hervorgerufene farbige Strukturen erinnern hingegen an Natur. Aus dieser grundlegenden Spannung der Werke lassen sich andere ableiten: die zwischen Geist und Materie, Natur und Technik, Ruhe und Bewegung, Innen und Außen, Licht und Schatten, Zeit und Raum, Hier und Dort, Diesseits und Jenseits.
Sinnliche, ja erotische Assoziationen an Natur und Elemente sind vielfältig. Erinnert wird man an Haut und Rinde, an Erde und Fels, an Feuer und Wasser, an Himmelskörper und Lichterscheinungen. Amorphen, rauen und doch zarten Strukturen sowie pulsierender Farbigkeit stehen klare geometrische Formen gegenüber, Sinnbilder des Rationalen – Maßstäbe, um Ordnung ins Chaos bringen zu wollen. Sie sind eingewoben in ein Ganzes, eröffnen gleichsam Pforten zu anderen Sphären, sind Linien, die die Bewegung der Gedanken zu grenzüberschreitenden Erfahrungen leiten. Trotz gegenständlicher Anmutungen besticht die Leere in den Bildern. Sie empfängt und zieht wie magisch an. Elementarkräfte scheinen in ihr gebannt. Ein Schöpfungsakt leuchtet auf und ergreift unsere Sinne und Empfindungen.
Da Liñas Werke weisen meditativen Charakter auf. Sie stehen in einer langen Tradition der Moderne, bildnerische Mittel in Träger spiritueller Kräfte zu verwandeln. Die Entwicklung spannt sich von der suprematistischen Urform bis zu den Lichtobjekten der ZERO-Künstler. Lucio Fontana mit aufgeschlitzten Leinwänden, Yves Klein und Gotthard Graubner mit Farbkörpern und Antonio Dias mit rätselhaften Zeichenbildern sind ästhetisch-geistige Anverwandte. Da Liña hat in beharrlicher Weiterentwicklung seine eigene Bildwelt geschaffen, in die archaische und kultische Elemente in künstlerisch freier Anverwandlung eingehen. Harmonie, Konzentration, Sammlung stehen im Zentrum seiner Werke, die in Raum umspannender Gesamtinszenierung eine aus dem Alltag erhebende Atmosphäre schaffen.
Michael Nungesser.
Kunsthistoriker.
28. November 2004.